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April 2016
Oder: Niemand ist ein toter Stuhl
Ein Papagei ist ein recht gelehriges Tier. Er kann nach häufigem Hören Wörter und zuweilen kleine Sätze nachplappern und ungezählte Male stupide wiederholen. Eigene Gedanken oder gar Gedankengänge kann er nicht hervorbringen. Sein Tun ist gedanken-los und fremd-provoziert!
Ein Mensch wird zum Papagei, sobald sein Sprechen gedanken-los und fremd-provoziert wird und er sich immer wieder stupide wiederholt.
Wie kann das geschehen? Jeder Mensch hat doch einen Verstand und einen freien Willen! Ja, da ist aber auch noch seine Psyche.
Die Psyche ist unvernünftig und will immer glücklich sein – zu jedem Preis! Ihr „Schlüssel zum Glück“ ist die Gewohnheit! Unangenehmes lehnt sie grundsätzlich ab (außer sie wurde daran gewöhnt!) – wie zum Beispiel: Streit, Kampf, Krieg, Ablehnung, Missachtung, Geringschätzung, (dauernde) Einsamkeit, …
Dieser Tatbestand trifft auch für die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern zu. Beide sind als Menschen naturgemäß immer auf das Angenehme ausgerichtet. Ernsthaftes „Kämpfen“ und „Ringen“ miteinander kann anstrengend und verletzend sein und ist daher unangenehm. Man bevorzugt da doch die „Harmonie“ (heutzutage schon fast um jeden Preis und ohne die daraus folgenden Konsequenzen zu beachten).
Das ist aber gerade gegenüber Kindern eine Lebens-fremde Erwartungshaltung. Denn Kinder sind ständig damit beschäftigt, ihr aktuelles „Weltbild“ (Michael Winterhoff) auf seine Gültigkeit zu überprüfen – zum Beispiel ihr „Weltbild“ von der eigenen „Allmacht“. Wenn Eltern hier „mitspielen“ anstatt ihren Kindern „abgegrenzt und in sich ruhend“ (Michael Winterhoff) eingreifend und steuernd gegenüberzutreten, kommt dieses Weltbild im Kind nicht zu seinem entwicklungsnotwendigen Abschluss und das Kind verbleibt (!) in der Vorstellung, alle Menschen nach seinen Wünschen, Launen und Vorstellungen steuern und gebrauchen zu können – wie einen gegenständlichen, toten Stuhl.
Wenn es bei einem Neugeborenen in den ersten Lebensmonaten naturgemäß und existenziell notwendig ist, dass die Eltern gleich kommen, sobald das Kind schreit, so existenziell Not-wendend ist es aber auch, dass ca. mit dem 10. Lebensmonat diese „Steuerungsallmacht“ allmählich ihre Einschränkungen erfährt. Eine Mutter wird intuitiv spüren, ab wann und in welchem Umfang sie ihr Kind dann auch mal einige Sekunden warten lassen kann. Damit beginnt das für jeden Menschen unabwendbar notwendige Training der Frustrationstoleranz!
Leben in Gemeinschaft ohne Frustrationstoleranz kann nicht gelingen! Denn „wo Menschen sind, da menschelt es“ (Volksmund), da wird es unausweichlich Enttäuschungen, Verletzungen, Misserfolge, … geben!
Ein Mensch ohne Frustrationstoleranz ist letztlich gemeinschaftsunfähig!
Gemeinschaft aber ist das, was jeden Menschen immer wieder glücklich macht.
(vgl. Manfred Spitzer)
Der Zugang zu diesem Glück eröffnet sich den Kindern in dem Maß, in dem sich Eltern, Großeltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen den „Allmachts-Vorstellungen“ des Kindes sanft, aber entschieden entgegenstellen und nicht „mitspielen“. Entwicklungspsychologisch braucht es diese Phase, aber sie muss zum Abschluss kommen. So erlebt und lernt das Kind den Unterschied zwischen totem Gegenstand und lebendigem Mensch. Die Nervenzelle „Mensch“ im Gehirn des Kindes kann ihre Funktion erlernen.
Warum fällt es uns Erwachsenen heute oft so schwer, unserem Part als liebevoll steuerndes Gegenüber angemessen zu entsprechen?
Das hängt vor allem mit unserem weithin gewohnheitsmäßigen (!) „Leben im Hamsterrad“ zusammen. Dadurch hat sich unsere eigene Psyche so sehr an Hektik, Un-Ruhe, Stress, … gewöhnt (!), dass wir für Ruhe, Stille, Gelassenheit, … unfähig geworden sind (weil ungewohnt!).
Hier liegt der Grund, warum es uns so schwerfällt, Kindern „in uns ruhend und abgegrenzt“ (Michael Winterhoff) gegenübertreten zu können.
Wir reagieren spontan (und oft gereizt) auf ihre Äußerungen und Wünsche.
Wir nehmen uns bzw. haben nicht mehr die Zeit, zuvor nachzudenken.
Wir reagieren (zu) oft fremd-provoziert und gedanken-los!
Das heißt:
- Kinder fragen uns wiederholt Dinge, die sie schon längst wissen und verstanden haben.
Und wir wiederholen das Gesagte, Vereinbarte, … immer und immer wieder, wie auf Abruf.
Daher läuft dieses Nachfragen seitens der Kinder oft auch schon „automatisiert“ ab – aus
unreflektierter Gewohnheit!
Diese „erfolgreiche Gewohnheit“ führt aber auch dazu, dass Kinder „lernen“: Ich muss
ja gar nicht gleich hin- und zuhören. Denn es wird mir ja dann auf Abruf eh persönlich mitgeteilt/wiederholt.
- Kinder tun oder fragen uns wiederholt Dinge, obwohl sie schon im Voraus um unsere negative Reaktion wissen.
In vielen Fällen signalisieren Kinder damit aber auch ihren Wunsch nach Aufmerksamkeit,
Zuwendung (auch wenn sie negativ ausfallen wird).
Einige Beispiele aus dem Grundschul-Alltag:
1.
Lehrkraft: „Wir brauchen den blauen Holzstift.“
Schüler/in: „Kann es auch der grüne Filzstift sein?“
Die Farbe ist eindeutig benannt worden.
Sie wissen, dass Filzstifte verboten sind.
Konsequenz für den Unterricht:
- unnötige Verzögerung und Unruhe
- nicht selten Verwirrung für andere Schüler/innen, da sie plötzlich „grün“ oder „Filzstift“ hören
- sich häufig wiederholende Geduldsprobe für die Lehrkraft
2.
Lehrkraft: „Schlagt bitte das Lesebuch Seite 45 auf.“ (zu einer still wartenden Klasse!)
Nach wenigen Augenblicken ruft ein Kind herein: „Was sollen wir tun?“
Die Lehrkraft zeigt auf ihren Papagei-Button und das Kind sagt ohne zu zögern: „Ach ja, Lesebuch Seite 45.“
Nachfrage der Lehrkraft: „Warum hast du mich denn überhaupt gefragt?!“
Antwort des Kindes – Achselzucken!
Dieses Kind wusste wirklich nicht „warum“. Es war einfach daran gewöhnt (!), sich alles nach seinem Belieben persönlich noch einmal sagen zu lassen. Der (wohl weithin unbewusste) Vorteil: Es bekam Aufmerksamkeit, Zuwendung, …, aber auf Kosten der Mitmenschen.
Wären das Einzelfälle in einer Woche, so wäre es kein Thema! Aber es sind tägliche „Mehrfacher-Erlebnisse“!
So manche Lehrkraft kann sich da zu Recht
als „Papagei“ vorkommen!
Eine sehr wirksame Gegenmaßnahme ist dieser Button.
Ein stummes Hindeuten reicht im Allgemeinen.
Eine weitere Übung gegen das Gesteuert-Werden durch Kinder ist das stille Zählen bis „4“. Das Kind bekommt zwar seine Antwort, aber nicht „auf Knopfdruck“ wie bei einem toten Automaten. Es wird den Frust des Wartens ertragen lernen und nachhaltig merken: Ein Mensch ist kein Automat!
Warum ist es von so großer Bedeutung, dass der Mensch den Menschen klar von Gegenständen zu unterscheiden vermag?
(nach Michael Winterhoff)
Ein Gegenstand ist tot.
Er wehrt sich nicht, wenn er verschoben, beklettert, gekratzt, … wird.
Er hat keinen Verstand und keinen freien Willen.
Ein Mensch ist lebendig.
Er hat einen Verstand zum Erkennen und einen freien Willen zum Entscheiden:
Jenes mag und liebe ich. – Jenes lehne ich ab (hasse ich).
Ein Mensch wehrt sich verbal und/oder tätlich, wenn ihm etwas nicht gefällt.
Wenn nun ein Erwachsener in der „Allmachtsphase“ des Kindes „mitspielt“ und sich alles gefallen lässt – weil es dem Kind doch so viel Freude bereitet – dann speichert das kindliche Gehirn ab: Menschen = Gegenstände
Denn mit denen da kann man machen, was man will.
Die wehren sich nicht wie Gegenstände.
Die „Allmachtsphase“ kommt nicht zu ihrem Abschluss!
Jedes Kind, bei dem die „Allmachtsphase“ nicht zum Abschluss kommt, bleibt in der Überzeugung stecken, mit jedem Menschen umgehen zu können und zu dürfen, wie es ihm gerade in den Sinn kommt – eben wie mit einem Gegenstand ohne Verstand und freiem Willen.
Die grundsätzliche Regel bleibt ihm unverständlich:
Die Freiheit des Einzelnen hört dort auf, wo sie in die Freiheit des Anderen eingreift.
Eine absolute Freiheit gibt es nicht – außer als Einsiedler auf einer Insel.
Da jeder Mensch aber befähigt ist, sein Wohl und Weh kundzutun, muss es häufig bis ständig zu Konflikten kommen. Ein „allmachtgläubiges“ Kind ist aber unfähig, eigenes Unrecht oder auch nur Anteile daran zu erkennen oder gar anzuerkennen – denn der andere ist ja nur ein Gegenstand und was hat der schon zu melden.
FAZIT:
Jeder Erwachsene, der sich von Kindern gedanken-los und fremd-provoziert – wie ein Papagei – „abrufen lässt", erschwert oder verhindert gar den Abschluss der einzelnen kindlichen „Weltbilder“. Jeder Abschluss aber ist für die Entwicklung der psychischen Reife des Kindes unablässig.
Eine reife Psyche ist gekennzeichnet durch:
Frustrationstoleranz, Blick für andere Menschen, Empathiefähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Fremdbestimmung, Höflichkeit, Respekt, Pünktlichkeit, Gewissensinstanz, „Mein-Dein“-Bewusstsein, Interaktionsfähigkeit (die Fähigkeit, positiv mit anderen Menschen in wechselseitige Beziehung treten / stehen zu können), Lern-, Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, Arbeitshaltung, Erkennen von Abläufen, Zusammenhängen und Strukturen, … (nach Michael Winterhoff)
Es sind die psychischen Funktionen, die Dr. Michael Winterhoff in seinen Büchern vielfältig darlegt. Sie stellen die Basis jeder Gemeinschaftsfähigkeit dar.
Gemeinschaft aber ist das, was jeden Menschen als soziales Wesen (vgl. Aristoteles) immer wieder glücklich macht (vgl. Manfred Spitzer).
Ich bin kein Papagei, damit du glücklich wirst!
Denn dann erkennst du verlässlich
den Unterschied zwischen Mensch und Gegenstand!
(Michaela Dütsch)
Jeder Rundbrief steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Homepage www.schmetterling-statt-raupe.de, die im Wesentlichen auf den Darlegungen von Dr. Michael Winterhoff basiert. Alle blau gefärbten Textteile sind Links zu zu derselben.